Hypertonie

Ein paar Minuten lang hielt ich meine Mutter für tot. Vielleicht, so hoffte ich, liegt sie auch nur seit 12 Stunden hilflos im Haus am Boden. Dienstag Abend, 21:15 Uhr, Handyklingeln; ich melde mich. „Hier ist Ilka“, sagt Ilka. Ilka ist eine Freundin meiner Mutter. Ob ich wüsste, was mit meiner Mutter sei, fragt Ilka. Nein, das weiß ich nicht. Ilka ist wie jeden Morgen am Haus meiner Mutter vorbeigefahren und hat gesehen, dass die Vorhänge bei meiner Mutter noch zu waren. Um diese Zeit sind die Vorhänge bei meiner Mutter nie zu. Ilka weiß das, und ich weiß das auch. Abends ist Ilka wieder am Haus meiner Mutter vorbeigefahren, da waren die Vorhänge noch immer zu, obwohl sie so früh am Abend nie zu sind, auch das wissen wir beide. Ich rufe dich zurück, sage ich zu Ilka und wähle die Nummer meiner Mutter. Herzrasen; ich schwitze. Freizeichen. Um diese Zeit müsste sie vor dem Fernseher sitzen – Weg zum Telefon: 10 Sekunden, mit aus dem Sessel hochquälen vielleicht 15. Wenn sie lesen sollte, hinten auf dem Sofa, maximal 30 Sekunden. Vielleicht putzt sie die Zähne, dann braucht sie vom Bad zum Telefon im Schlafzimmer höchstens 20 Sekunden; das Klingeln hört sie auf jeden Fall. Mit Svenja dreht sie um die Zeit auf keinen Fall noch eine Runde um den Block. Freizeichen. Eine Minute. Eine Minute zehn. Ich hoffe. Meine Mutter hat unberechenbare Schwindelattacken. In letzter Zeit alle 6 Tage. Manchmal kann sie sich nicht rechtzeitig festhalten, oder sich setzen. Dann fällt der Schwindel über sie her und sie stürzt, liegt am Boden, bei Bewusstsein, wartet, bis der Schwindel wieder geht. Ich hoffe, sie liegt im Haus, am Boden, seit heute Morgen, kann sich nicht rühren. Wenn ich die Hoffnung aufgebe, ist sie tot. Ich rufe Siegried an. Meine Mutter geht nichts an Telefon, sage ich. Da ist etwas passiert, sagen wir beide. Was jetzt, fragt Ilka. Wir müssen ins Haus rein, meint Ilka. Ilka hat keinen Schlüssel. Nina hat einen Schlüssel. Nina ist Mieterin bei meiner Mutter, wohnt in der Wohnung oben, aber nachts ist Nina nie zu Hause, weil sie nachts bei ihrem Freund schläft. Deshalb hat meine Mutter abends und nachts auch Angst, weil sie ganz allein im Haus ist, obwohl sie doch extra vermietet hat, damit sie abends und nachts nicht mehr allein im Haus ist. Ich rufe Nina an, Handy. Sie wundert sich, dass ich am Apparat bin. Ihr Handy erkennt mich nicht, Nina hat meine Nummer nicht gespeichert sie nie gehabt. Nina sagt: „Deine Mutter ist seit Montag Abend im Krankenhaus; ich dachte, das wüsstest du, sonst hätte ich dich doch angerufen.“ Meine Mutter hatte zu hohen Blutdruck, irgendwas mit 230 zu irgendwas, der Kopf hat gedröhnt, sie ruft den Notarzt, Nina bekommt es mit, weil sie, da ist sie eine Nacht zu Hause gewesen. Der Notarzt kommt. Der Blutdruck ist so hoch, dass er nicht glauben kann, dass meine Mutter überhaupt noch – ja, was eigentlich? Ich wollte dich nicht aufregen, sagt sie. Deshalb hat sie nichts gesagt. Sie wollte sich erst melden, wenn sie weiß was ist. Ich verstehe das. Ich bin ja eh nicht da. Also muss sie sich selbst kümmern. Aber da gab es diese Minuten, dieses Bild mit den geschlossen Vorhängen, das Freizeichen, eben diesen Moment, da meine Mutter für mich tot war. Als wäre ich auf etwas vorbereitet worden.