August 2015

Muslimtest für Slowaken

In Prenzlauer Berg alles fein säuberlich getrennt, die Weißköpfe, ein paar Gelbe, ein Schwarzer, Türken, Perser, Araber nur im Spätverkauf hinterm Tresen – klare Grenzen. Bei Frau Mittenmang speist einer, der empfiehlt als Vorspeise das Tartar, dazu einen Sauvignon Blanc, dann die Gnocchi mit Pfifferlingen, Preiselbeeren, Waldkräutern, Ziegenkäse, dazu Chardonnay, den schüttet er gerade in sich hinein und sagt: Beim Gelben Mann geh ich nicht essen. Da stinkt es. Da kann ich mich nicht zu überwinden. Er arbeitet als Servicekraft im Augustiner am Gendarmenmarkt, aber er muss keine Lederhosen tragen. Das machen da nur die Geschäftsführer. Die meisten der Gäste sind Asiaten. Über dem Augustiner die Musikschule von Ernst-Busch. Da üben sie ‚Bilder einer Ausstellung’ vom Mussorgsky am Klavier. Das wiederholt der Ober ständig, als wollte er Anerkennung, weil er das kennt, weil er weiß, dass es ein Orchesterwerk ist, deswegen gefällt es ihm so gut nur mit Klavier, weil man das sonst nirgends so zu hören bekommt, nur da unten beim Augustiner auf der Terrasse, wo er bedient. Der Gelbe Mann. Alles fein säuberlich getrennt in Prenzlauer Berg und Mitte. Christen bekennen hier nur in Kirchen. Man erkennt sie auch an den letzen Kohleöfen, die es hier noch gibt, die gibt es nur noch in Wohnungen von Christen. Moscheen gibt es keine. Wenn du im Spätverkauf hinterm Tresen stehst, schaffst du es nicht in die Moschee. Ein persischer Muslim macht seinen Spätkauf schon um 8 Uhr morgens auf, weil er auch Sammelstelle für Hermes ist. Er gelt sich die Haare, Schwarzkopf, und manchmal kommt sein Hund ihn abholen, ein Bullterrier, der ständig alle ableckt, also irgendwie falsch erzogen wurde. Spätkauf für Christen, Paketversand für Muslime, Bulldoggen für Servicekräfte, Kohleöfen für Deutsche, die Straßen den Slowaken.

Hypertonie

Ein paar Minuten lang hielt ich meine Mutter für tot. Vielleicht, so hoffte ich, liegt sie auch nur seit 12 Stunden hilflos im Haus am Boden. Dienstag Abend, 21:15 Uhr, Handyklingeln; ich melde mich. „Hier ist Ilka“, sagt Ilka. Ilka ist eine Freundin meiner Mutter. Ob ich wüsste, was mit meiner Mutter sei, fragt Ilka. Nein, das weiß ich nicht. Ilka ist wie jeden Morgen am Haus meiner Mutter vorbeigefahren und hat gesehen, dass die Vorhänge bei meiner Mutter noch zu waren. Um diese Zeit sind die Vorhänge bei meiner Mutter nie zu. Ilka weiß das, und ich weiß das auch. Abends ist Ilka wieder am Haus meiner Mutter vorbeigefahren, da waren die Vorhänge noch immer zu, obwohl sie so früh am Abend nie zu sind, auch das wissen wir beide. Ich rufe dich zurück, sage ich zu Ilka und wähle die Nummer meiner Mutter. Herzrasen; ich schwitze. Freizeichen. Um diese Zeit müsste sie vor dem Fernseher sitzen – Weg zum Telefon: 10 Sekunden, mit aus dem Sessel hochquälen vielleicht 15. Wenn sie lesen sollte, hinten auf dem Sofa, maximal 30 Sekunden. Vielleicht putzt sie die Zähne, dann braucht sie vom Bad zum Telefon im Schlafzimmer höchstens 20 Sekunden; das Klingeln hört sie auf jeden Fall. Mit Svenja dreht sie um die Zeit auf keinen Fall noch eine Runde um den Block. Freizeichen. Eine Minute. Eine Minute zehn. Ich hoffe. Meine Mutter hat unberechenbare Schwindelattacken. In letzter Zeit alle 6 Tage. Manchmal kann sie sich nicht rechtzeitig festhalten, oder sich setzen. Dann fällt der Schwindel über sie her und sie stürzt, liegt am Boden, bei Bewusstsein, wartet, bis der Schwindel wieder geht. Ich hoffe, sie liegt im Haus, am Boden, seit heute Morgen, kann sich nicht rühren. Wenn ich die Hoffnung aufgebe, ist sie tot. Ich rufe Siegried an. Meine Mutter geht nichts an Telefon, sage ich. Da ist etwas passiert, sagen wir beide. Was jetzt, fragt Ilka. Wir müssen ins Haus rein, meint Ilka. Ilka hat keinen Schlüssel. Nina hat einen Schlüssel. Nina ist Mieterin bei meiner Mutter, wohnt in der Wohnung oben, aber nachts ist Nina nie zu Hause, weil sie nachts bei ihrem Freund schläft. Deshalb hat meine Mutter abends und nachts auch Angst, weil sie ganz allein im Haus ist, obwohl sie doch extra vermietet hat, damit sie abends und nachts nicht mehr allein im Haus ist. Ich rufe Nina an, Handy. Sie wundert sich, dass ich am Apparat bin. Ihr Handy erkennt mich nicht, Nina hat meine Nummer nicht gespeichert sie nie gehabt. Nina sagt: „Deine Mutter ist seit Montag Abend im Krankenhaus; ich dachte, das wüsstest du, sonst hätte ich dich doch angerufen.“ Meine Mutter hatte zu hohen Blutdruck, irgendwas mit 230 zu irgendwas, der Kopf hat gedröhnt, sie ruft den Notarzt, Nina bekommt es mit, weil sie, da ist sie eine Nacht zu Hause gewesen. Der Notarzt kommt. Der Blutdruck ist so hoch, dass er nicht glauben kann, dass meine Mutter überhaupt noch – ja, was eigentlich? Ich wollte dich nicht aufregen, sagt sie. Deshalb hat sie nichts gesagt. Sie wollte sich erst melden, wenn sie weiß was ist. Ich verstehe das. Ich bin ja eh nicht da. Also muss sie sich selbst kümmern. Aber da gab es diese Minuten, dieses Bild mit den geschlossen Vorhängen, das Freizeichen, eben diesen Moment, da meine Mutter für mich tot war. Als wäre ich auf etwas vorbereitet worden.

Flüchtlingsfernsehen

Nach 3 Tagen Magen-Virus dröhnt nur noch der Kopf – Pollenluft mit Feinstaub, Hitze, ständiger Hangover mit geschwollenen Schleimhäuten. Dafür dann China im Frühling, Shanghai, Hongkong, Peking, da ist die Luft dann besser, da gibt’s nur Smogtote, wenn man nicht mehr wegkommt. Immer noch keine Flüchtlinge in Prenzlauer Berg, es sei denn die Roma-Mutti vor der Bio-Company, deren Titten auf dem Bürgersteig liegen, wenn sie da sitzt, aber die ist schon immer heimatlos, also kann sie ihrer Heimat nicht entflohen sein. Vor Kos die Flüchtlinge jetzt in einem Kreuzfahrtschiff – was wenn das auf Reise geht? Schiffe versenken? Bald ist der Balkan leergeräumt, wer wohnt dann noch im Kosovo, in Bosnien? Was wird aus Albanien? Jeder Tag in einem Auffanglager in Eisenhüttenstadt ist besser als ein Tag in Albanien, sagt ein Albaner, der in Eisenhüttenstadt vierundzwanzig Stunden warten musste, bis seine kranke Tochter medizinisch versorgt werden konnte. Aber ihr wurde geholfen – er ist glücklich. Die öffentlich-rechtlichen schalten ein Flüchtlings-Fernsehen, online laufen ohnehin live-streams: Verfolgen Sie die Welle! Es gibt eine App für Einheimische, die zeigt an, wo man vor Flüchtlingen sicher ist, und es gibt eine für Flüchtlinge, die anzeigt, wo noch ein Zelt-Platz frei ist. Deutschland wird sich verändern, sagt der Bundesinnenminister. Deutschland verändert.

Die Macht der Krise

Wenn wir die Realität nicht mehr ertragen, verlagern wir sie ins Theater, die Literatur, die Kunst, den Film. Deren Aufgabe ist es, Realität entweder so darzustellen, dass sie erträglich wird, oder so, dass wir uns aus der Distanz heraus versichern können, nicht unbedingt ein Teil von ihr zu sein – wenn wir nicht wollen, schauen wir nur zu. Oder wir versichern uns im Moment der Gegenüberstellung unserer Verantwortung, uns der Realität wenigstens aus der Distanz heraus gestellt zu haben. Wenn aber das Theater, die Literatur, die Kunst, der Film und deren Produzenten als unpolitisch gelten, handeln sie unverantwortlich im Sinne der Kritik, weil sie ihrem Publikum die Möglichkeit verweigern, sich selbst herauszuhalten.  Sobald ich öffentlich werde, bin ich gesellschaftlich relevant, was aber nicht bedeutet, dass ich Kunst produziere, bloß weil ich veröffentliche. Gesellschaft bedeutet die Gesamtheit der Menschen, die sich aber in Grenzen fassen, deswegen gibt es Gesellschaften. Ich trete bei oder werde ausgeschlossen; es gibt also Menschen außerhalb von Gesellschaften. Werden sie sichtbar, werden sie relevant, deswegen verlagern wir sie ins Theater, die Literatur, die Kunst, den Film, wo sie zur Idee eines Menschen werden, denn nur als Idee oder künstlerisches Produkt können sie Mensch und zugleich kein Teil einer Gesellschaft sein.